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St. Victor – Konzept Innenarchitektur

Die Parochie (Amtsbezirk) St.-Victor umfasst einen großen Teil des Stadtbezirkes Herringen in der Stadt Hamm. Zur Gemeinde gehören ca. 4.800 Menschen, viele Ehrenamtliche prägen ein lebendiges und vielfältiges Gemeindeleben. Durch Rahmenbedingungen, die das Empowerment strukturell benachteiligter Gruppen fokussieren, wurde neben der seelsorgerischen Wirksamkeit, die sozial–diakonische Arbeit in den vergangenen Jahren deutlich ausgeweitet. Das Angebot konzentriert sich auf menschliche Beziehungen, zeigt sich engagiert und niederschwellig. Die Räumlichkeiten stehen dabei Menschen aller Konfessionen offen. Insbesondere die St.-Victor-Kirche und das Evangelische Gemeindehaus bilden ein hohes symbolisches Kapital in Kirchengemeinde und Stadtteil, das stark zur Integration der verschiedenen Milieus des Ortes beiträgt. Der bestehende Bau des Gemeindehauses korrespondiert in seiner klaren und rationalen Architektursprache des Dortmunder Architekten Emil Pohle nicht nur mit einer protestantischen Lebenshaltung, sondern auch mit der offenen, impulsgebenden Mentalität der Gemeinde.

Raum, Kultur & Soziales

„St. Victor - evangelisch, bunt, mitten im Dorf“: mit diesem Leitbild beschreibt sich die Gemeinde St. Victor selbst. Der Anspruch kraftvolle, vernetzende Strukturen und Beziehungen in den Raum zu tragen, resultierte 2015 in einem architektonischen Wettbewerb. Für das Gemeindehaus, 1931 nach den Plänen des Werkbundvertreters Pohle errichtet, sollten unter besonderer Berücksichtigung der zu erhaltenden Bausubstanz, geeignete Lösungsvorschläge hervorgebracht werden. Die Zielformulierung auf Meta-Ebene beinhaltete die Entwicklung eines Ortes, der Zeit und aktueller Bedürfnisse angemessen, einen konstruktiven Beitrag zur sozialen und kulturellen Entwicklung des Ortes leisten sollte.

Raum & Strukturen

Das Bewusstsein um die Fähigkeit von gestaltetem Raum, die Qualität des Umgangs wesentlich mitzuprägen, neue Richtungen aufzuweisen, sinnstiftend zu wirken, bildet eine gemeinsame Entwurfsgrundlage. Die neuen, behutsam definierten Raumabfolgen im denkmalgeschützten Bestand sind in ihrer Ausrichtung so konzipiert, dass dynamische und zur Begegnung angelegte Arbeitsprozesse ermöglicht werden. Barrierefreiheit, Erreichbarkeiten und eine grundsätzliche Übersichtlichkeit sind strukturierende Leitmotive des Entwurfes. Klare Zuweisungen, Transparenzen und Blickbeziehungen bilden eine Kultur der Offenheit und Öffnung ab - nach innen und außen.

Das Erdgeschoss des Gemeindehauses gliedert sich in zwei Teilbereiche, die über eine längsseitige Hauptachse erschlossen werden. Eingang, Büroflächen (Gemeinde- und Sozialarbeit), Kontakt- und Servicebereich bilden ein vorgesetztes Ensemble, das die Gemeindearbeit zentral zugänglich macht. Additiv, in der Reihung angelegt, bewahren alle Flächen ihre Eigenständigkeit. Neben der Positionierung entlang der Querachse finden sie dennoch ihre gemeinsame Verknüpfung über den dreigliedrigen Zugangsbereich. Dieser lenkt die Bewegungsströme und verknüpft die einzelnen Formelemente unmissverständlich miteinander. Durch mobile Elemente können Zonen hier nach Anlass und Bedarf neugeordnet werden und zu neuen Raumbereichen verschmelzen. Der konzeptionell verankerten, maximalen Flexibilität in Raum wird so Rechnung getragen - eine wirksame Maßnahme, die sich im Alltag als realer Mehrwert erweist. Die Förderung kommunikativer Begegnungsformen steht gleichwertig und gleichzeitig neben der Vermittlung von Diskretion und Vertrauen.

Im Durchschreiten der kompakten, einleitenden Raumteile erleben Besucher:innen einen charakteristischen Szenenwechsel. An diese Raumbereiche angegliedert, finden sich zwei Gruppenräume sowie der Gemeindesaal als Hauptprotagonist und Herzstück des Gemeindelebens, der sich ganz der Gemeinschaft widmet. Der Saal (inkl. Bühne) in seiner repräsentativen und einladenden Dimension behält sein Potenzial vielfältiger Nutzungsszenarien. Die Saalempore im Obergeschoss wird durch die Neukonzeption reaktiviert. Sie kann nun unabhängig von den Nutzungen der anderen (Gruppen-)Räume erschlossen werden und eröffnet eine weitere Raumdimension und Blickbeziehung.

Raum & Denkmal

Als innovatives und bestimmendes Gestaltungsmerkmal für den Saal wählte Pohle 1930/31 ein sichtbares, Rautennetz aus gekantetem Stahlblech als Dachkonstruktion. Im Rahmen der umfangreichen Sanierung des denkmalgeschützen Gemeindehauses wird die in Vergessenheit geratene Dachkonstruktion hinter diversen, mehrschichtigen Verbauungen entdeckt, statisch ertüchtigt, instand gesetzt und als sichtbarer Dachstuhl, als innovatives Zeichen seiner Zeit inszeniert.

Die halbrunde Form spannt sich über die gesamte Fläche des Saalbaus und sorgt somit für eine stützenfreie Grundfläche. Formal wird in der Neukonzeption durch die schwarze Färbung des Stabnetzes in Kontrast zu weißen Flächen die filigrane Netzstruktur herausgearbeitet. Das Dach des Saals wird zur konzeptionell tragenden Säule des Projektes; gestalterisch und durch das Vermögen seiner symbolischen Kraft als sicherster Schutz des Menschen.

Nach dem von KEGGENHOFF | PARTNER erwirkten heutigem Kenntnisstand, unterstützt durch Forschungen der TU München, lässt sich festhalten, dass es sich bei dem Dachtragwerk um einen patentierten Prototyp von Ingenieur Emil M. Hünnebeck (Ehrendoktor TH Aachen) handelt, der in dieser Entwicklungsstufe nur ein weiteres Mal existiert. Dem vorbildlichen Einsatz aller Baubeteiligten und einer durch die Innenarchitekt:innen initiierten Förderung durch die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, ist es zu verdanken, dass dieses Relikt nationaler Baugeschichte nicht nur erhalten bleibt, sondern auch wieder vollumfänglich zur Geltung kommt.

Raum & Material

Zugunsten eines kontemplativen Raumeindrucks, reduziert sich die Materialkomposition aller Räume primär auf zwei Materialien: Eichenholz und Metall. Die weiß verputzten Wandflächen des umgebenden Raumes nehmen sich vollumfänglich zurück oder sorgen für die Markierung von Übergängen und Schwellen. Das Hünnebecker Dachtragwerk sowie die hölzernen Einbauten und Verkleidungen erhalten so eine angemessene Akzentuierung. Insbesondere das Eichenholz transportiert eine wertige, erdende Atmosphäre, die simultan auch die notwendige Robustheit und Langlebigkeit in der Anwendung garantiert. Während die Arbeit im denkmalgeschützten Bestand eine achtsame, konzeptionelle Linie zwischen ‚Altem’ und ‚Neuem’ zieht, referenzieren alle neu verarbeiteten Materialien in Beschaffenheit, Textur oder Farbe den Ursprung aus den 1930er Jahren.

Um im Gemeindesaal den Fokus ganz auf die gestalterische Wirkung des Daches zu lenken, werden reliefartige Vorsatzschalen aus Eichenholz entlang der Wandflächen entwickelt, die akustisch wirksam sind, Maßdifferenzen ausgleichen, TGA und Beleuchtung Platz bieten.

Zitatbänder, die typografische Elemente des Gemeindehauses aus den 1930er Jahren aufnehmen, ziehen sich als motivierende, versöhnliche und identittätsbildende Impulse durch alle Raumbereiche. In ihrer Zusammenstellung widmen sie sich Perspektivwechsel, dem Appell an Versöhnung und der Gestaltung von Gemeinschaft. Sie unterstützen auf zweidimensionaler Ebene die transportiere räumliche Botschaft der Gemeinde.

Raum & Öffentlichkeit

Um sich symbolisch mit der Öffentlichkeit zu verzahnen, wurden längsseitig des Saals Terrassen eingebracht, die sich zum Markt und zum Park hin auffächern. Hierdurch ist gewährleistet, dass sich der Saal mit seinen Raumangeboten barrierefrei bis in den Außenraum entwickeln kann. Zukunftsszenarien sehen vor, dass sich durch einen erreichbaren, funktionalen Einbezug des Außenraums, die Nutzungsmöglichkeiten im Wechsel der Jahreszeiten potenzieren.

Text Innenarchitektur: KEGGENHOFF | PARTNER

Foto: Constantin Meyer Fotografie

Collage: KEGGENHOFF | PARTNER